Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus

1887 Undercover in der Psychiatrie. Für die New York World berichtet die 23jährige Journalistin Nellie Bly 1887 aus der frauenpsychiatrischen Abteilung auf Blackwells Island.

Es war das einerseits das rasante Wachstum des amerikanischen Zeitungsmarktes, das solche Stories, damals neu, möglich machte. Zwischen 1870 und 1899 vervierfachte sich die Zahl der Tageszeitungen in Amerika, es entstanden neue Kundengruppen und die Leserschaft der Immigranten sprach der ungarischstämmige Zeitungsmacher Joseph Pulitzer mit seiner Zeitung New York World an. So entstand auf der einen Seite durch Zuwachs an Leserschaft, andere Lesebedürfnisse und den gestiegenen Bedarf an Stories die erste große investigative Story New Yorks: Undercover in der Psychiatrie. Als Nebenprodukt der Geburt der investigativen Story wurde der Typus des Stunt Girls kreiert, wovon Frauen wie Nellie Bly profitierten, waren bis dahin Frauen als Journalistinnen kaum gesehen und wenn, dann bildeten sie häusliche Themenbereiche (Garten, Kochen, etc.) auf den hinteren Seiten der Blätter ab.

Nellie Bly ist 23 Jahre alt, als sie vom Herausgeber der New York World gefragt wird, ob sie es sich zutrauen würde, sich als Geisteskranke in eine der New Yorker Heilanstalten einweisen zu lassen, um eine Insidestory über die Behandlung von Patientinnen schreiben zu können. So beginnt die als Bericht gehaltene Reportage. Anhand der schlichten Vorkehrungen, die getroffen werden, um Nellie wieder herauszuholen, drängt sich die Frage auf, ob die Herausgeber der Zeitung dem Vorhaben überhaupt eine Chance gaben. Nellie ist interessiert, hat aber kaum Ahnung von Geisteskrankheiten oder dem Leben in Anstalten (was gut ist). Also mietet sie sich in einem Behelfsheim für Damen ein und gibt dort vor, den Verstand verloren zu haben. Die Heimleiterin nimmt sich ihrer an. Nach Vorführung bei Gericht, Begutachtung durch Ärzte wird sie in das Bellevue Hospital und von dort nach Blackwells Island überwiesen. Bemerkenswert ist, dass Nellie Bly sich schnell verhält wie immer. Das ist eine Beobachtung, sie zieht daraus keine Schlüsse, aber sie erfasst ein Labeln 1887 intuitiv sehr genau. Das ist die grundsätzliche Erzählhaltung. Sie nimmt wahr und gibt wieder. Psychologisieren liegt ihr fern, persönliche Eindrücke kommen aus ihrem eigenen Erleben.

Die Schilderungen ihres Aufenthaltes sind bedrückend, sie lesen sich nicht historisch, sondern zeitgemäß, auch weil Nellie Bly sich müht, die Abläufe so zu schildern, wie sie sich zugetragen haben. Es zeigt sich in der reportagehaften Erzählung. Hat ein Mensch Macht über andere, dann scheint es schwerzufallen, die nicht grausam und absolut auszuüben. Das geschilderte Pflegepersonal beeindruckt durch seine Rohheit, die Ärzte scheinen abwesend, wissen entweder nicht viel, oder doch so viel, dass ihnen klar ist, dass eine Besserung der Lebensumstände viele Leiden nicht ausbrechen lassen würde.

„…Seit meine Erlebnisse in der Irrenanstalt von Blackwells Island in der New York World veröffentlicht worde sind, habe ich Hunderte von Briefen erhalten. … Ich freue mich, verkünden zu können, dass die Stadt New York aufgrund meines Besuchs in der Anstalt und der darauf folgenden Enthüllungen eine Million Dollar mehr pro Jahr für die Pflege der Geisteskranken bewilligt hat. So verspüre ich immerhin die befriedigende Gewissheit, dass die armen Unglücklichen aufgrund meiner Arbeit in Zukunft besser umsorgt sein werden. Nellie Bly …“

Sehr lesenswert das Nachwort des Herausgebers Martin Wagners, der die oben genannte euphorische Einleitung in einen soliden geschichtlichen Kontext stellt, Nellie Blys ungewöhnliches Leben beleuchtet und Wissenswertes über den investigativen Journalismus in Amerika beizusteuern hat. Diese Figur in ihrer Zeit und das Stellen der Reportage in den Kontext der Zeit geben der Story Zehn Tage im Irrenhause eine gelungene Vielschichtigkeit.

Bly, Nellie: Zehn Tage im Irrenhaus

Martin Wagner (Hg.)

Aus dem Englischen übersetzt

und mit Nachwort v. Martin Wagner

192 Seiten

Broschur m. Abb.

4. Auflage

ISBN 978-3-932338-62-5

Als E-Book bei Culturbooks erhältlich

Amanda Lee Koe: Die letzten Strahlen eines Sterns

Drei Frauen, ein Foto, Berlin 1928. Abgebildet sind Marlene Dietrich, Anna Mae Wong und Leni Riefenstahl, fotografiert von Alfred Eisenstaedt, einem Fotoreporter, freiem Mitarbeiter des Berliner Tageblatts. Es ist kein Buch über Eisenstaedt, aber inspiriert von ihm. Sein Bild der tatsächlich so gegensätzlichen Frauen ist der Auslöser für die Autorin, den Lebenswegen der Frauen nachzuspüren.

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N.K. Jemisin: Die Wächterinnen von New York

New York ist am Erwachen. Aber die Größe der Stadt, die Einzigartigkeit jeder der Stadtteile verlangt nach mehreren Wächter*innen. Es schließt sich eine Geschichte an, die auch vom Suchen und Finden in einer Großstadt heißen könnte. Aber der bessere Titel ist ohne Zweifel: Die Wächterinnen von New York.

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Shahla Ujayli: Unser Haus dem Himmel so nah

Kupido Literaturverlag

„… Stundenlang unterhielten wir uns und beschworen den Geist der Vergangenheit herauf, den Duft nach Jasmin, Geißblatt, Jujuben…“

Alles, was erinnert werden kann, wird lebendig. Und die, an die sich niemand mehr erinnert, sind wahrhaft tot. Irgendwoher stammt dieses Zitat, nicht aus dem Roman von Shahla Ujayli, aber ich stelle mir vor, dass dieser oder ein ähnlicher Gedanke Anlass dieses Buches gewesen sein könnte.

Eine Kulturanthropologin, die seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs in Jordanien ist, lernt im Flugzeug einen Mann, Syrer wie sie, der lange in Amerika lebte, kennen. Beide im Exil, sie verlieben sich und es bleibt in der Folge angenehm offen, ob die sich wegen Anziehungskraft oder aus Einsamkeit verlieben, oder – weil sie gemeinsame Erinnerungen haben, an eine Stadt, ein Land, dass es so nicht mehr geben wird, wenn der Krieg vorbei sein sollte. Nur das ist gewiss.

In ihren Erinnerungen lassen sie Aleppo wieder auferstehen. Wandern Hand in Hand durch Raqqa. Und da ist der Roman groß, auch deshalb, weil zur Spielzeit des Romans noch Hoffnung bestand, dass es nicht gut, aber vielleicht noch glimpflich ausgehen könne – aber auch, weil die Autorin es versteht, die Komplexität der Menschen, Haltungen, Handlungen am Beispiel von Aleppo darzustellen. Um diese Figuren Hauptfiguren ranken sich Geschichten und Syrien, Aleppo, Raqqa, spielt immer mit. Häuser, ganze Stadtteile werden im Gespräch wieder aufgebaut, unglaublich schöne Gerüche schwingen immer mit.

Dadurch wird eine unglaubliche Vielfalt skizziert. Wer in Europa Syrien hört, denkt an Krieg. Auf der inneren Landkarte ist die Türkei ein Urlaubsort, kenntlich an den bunten Cocktailschirmchen, dahinter Syrien, Emoji Blitz. Israel. Es ist doch so: Bei einem Bericht über Syrien wird Krieg, Vertreibung und Chaos erwartet, und die Erwartenshaltung wird verlässlich bedient.

Und da ist der Roman schön, denn jedes Land trägt alles in sich, vor allen Dingen Heimat, was in einer Beobachtung der Hauptfigur, der Anthropologin, immer greifbar ist. Ist sie in Amman, in ihrer neuen Heimat, dann fühlt sie sich unsicher, nicht vertraut wie in Aleppo oder Raqqa; eben, weil ihr dort jede Ecke bekannt war. Oder kürzer: Hat man einen Ort, den man kennt, hat man Heimat.

Noch eine schöne und wahre Beobachtung: Der Pass ist das Dokument der Wiedergeburt. Die Erleichterung, die die Hauptfigur Djuman stets spürt, wenn sie den finalen Stempel erhält, der sie zum Boarding zulässt. Und eine sehr eindrückliche Episode: Das Flüchtlingslager Zaatari und sie mittendrin, zusammen mit vierhundert anderen Organisationen aus achtzig Ländern soll sie als Kulturanthropologin vor Ort definieren, wie die Mindeststandards von Katastrophenhilfe aussehen sollten, unter der besonderen Berücksichtigung der Errichtung von Lagern. Sie trifft auf unterschiedliche Leben und unterschiedlichste Fluchtgründe, auf Unmengen an Zucker, und ein Kind, dass geboren wird.

So reich der Roman in dem Erinnerten und Imaginierten ist, so glücklich gewählt die Beobachtungen sind, so wenig hatte die Liebesgeschichte im Unser Haus dem Himmel so nah die Kraft, in den Bann zu schlagen. Zu holzschnittartig, wie an Fäden kaspern Mann und Frau durch ihre Liebesgeschichte. Es kommt noch ein schweres Leiden hinzu, aber auch hier agieren die Figuren wieder wie aus einem Bilderbuch der erwartbaren und angemessenen Handlungen für Heiligengeschichten, aber: wenn mich Dinge an einem Buch stören, dann lese ich erst einmal drüber hinweg, so lange, bis das Störende anfängt zu überwiegen.

Unser Haus dem Himmel so nah ist eine Gratwanderung. Eindrücklich und sehr empfehlenswert, alles über Syrien, über die verschiedenen Besatzer, die das Land und ihre Bewohner prägten. Ein Fülle an Erinnerungen, die kräftig genug waren, eine Stadt aus der Ferne zu imaginieren – dabei das Buch mit dem Wissen zu lesen, dass so viel unwiederbringlich verloren ist. Daneben, ein wenig ärgerlich, typisierte Figuren, Klischees statt Figuren – und ganz eigenartig – in der Liebesgeschichte eine latent groschenromanhafte Sprache.

Unser Haus, dem Himmel so nah, ist der dritte Roman der 1976 geborenen Autorin Shahla Ujayli und war 2016 auf der Shortlist für den International Prize for Arabic Fiction

Unser Haus dem Himmel so nah, Rezension Deutschlandfunk Kultur

Lavinia Branişte: Sonia meldet sich

ein mikrotext

Sonia meldet sich ist ein atmosphärischer Roman über Rumänien im Heute und der Suche nach dem Gestern. Erzählt wird aus der Perspektive von Sonia, einer Figur wie aus einem Nouvelle Vague Film. Ein Drehbuchauftrag stößt die Geschichte über Rumäniens weitgehend unbekannte, jüngere Geschichte an. Es soll um Elena Ceauşescu und deren Tochter Zoia gehen. Zuerst befragt Sonia sich, dann ihre Mutter, sie recherchiert und stößt überall auf ein großes Nichts, auf Abwehr, auf Vergessenwollen. Ein großartiges Buch über eine Suche, über einen Weg, der zum Ziel wird.

Sonia wandert wie eine Chronistin durch die Stadt Bukarest, sie registriert den Verfall, der sie umgibt, Schimmel in allen Farben, bröckelnder Putz. In der Wohnung, in der sie mit ihrem Freund Paul lebt, im Treppenhaus, in öffentlichen Gebäuden. Die Stadt ist marode, ihre Beziehung auch, das hauptsächliche Merkmal scheint eine gewisse Unbeteiligtheit auf beiden Seiten zu sein, jedenfalls wundert sich Sonia manchmal, wie sie zu ihm und er zu ihr gekommen ist.

Und das ist auch Sonia. Sie arbeitet nach ihrem Studium bei einem kleinen Sender, verfasst Features, Blogeinträge, die Anlass zu Kritik seitens des Senders geben „… Wir möchten unsere Leser nicht traurig machen. Die Zukunft muss Hoffnung geben. …“, schreibt ihr die Redaktion.

Und noch mehr Sonia: In der Beziehung zu ihrer sie liebenden, aber schwer erträglich distanten Mutter, einem konsequent abwesendem Vater und einer aufdringlich Stiefschwester, die eine Beziehung zwischen ihnen konstituiert, die nicht da ist.

Am Anfang des Buches wird sie von dem Regisseur Vlad angeheuert, ein Drehbuch über Elena Ceausescu, Präsidentengattin und deren Tochter Zoia zu schreiben. Ihr wird bewusst, dass sie, aus der Generation der Nach1989er nichts über Rumänien vor 1989 weiß. Ein Nichts wurde im Geschichtsunterricht vermittelt, Angehörige schweigen, Unterlagen über Verfolgungen der Securitate sind nicht zugänglich.

Die Stimmung im heißen Budapest ist atmosphärisch und mittendrin beginnt Sonia wie zu ermitteln. Sie will mehr wissen, erst über die Mutter-Tochter-Beziehung von Elena C. und Zoia – aber letztlich will sie mehr über sich und über Rumänien erfahren. Unter Umständen könnten sich Erklärungen finden auf ihre belanglos vor sich hingelebte Beziehung, auf den Verfall in und um die Menschen herum. Vieles, was sie liest, hat Märchencharakter, oder es sind Übertreibungen, sie hört Lügen, Verdrehungen – und der Regisseur Vlad besteht weiterhin penetrant auf einem Drehbuch der Enthüllungen.

Fazit: Es ist spannend zu lesen, wie sich jüngere Geschichte und Sonias Frausein verquicken, sich in Beziehung setzt zu Bukarest, Rumänien, den Menschen – und hinführt zu einer Erzählerin, die mehr betrachtet denn fühlt, deren Auge in den besten Momenten wie eine Kamera ist und mit jedem Lidschlag entfalten sich neue Situationen, ob grotesk, heiter oder zärtlich.

Sonia meldet sich

Lavinia Braniște, Mai 2021 mikrotext

15,99 € E-BookePubPDFmobiISBN 978-3-948631-09-3

19,99 € Taschenbuchtaschenbuch

320 SeitenISBN 978-3-948631-10-9

Die wunderbare Welt des Dokumentarischen, Zingster Straße 25, Berliner Mietshaus mit Vollkomfort – Eeclectic

Am letzten Tag des Jahres möchte ich einen neuen Digitalverlag, EECLECTIC  – Digital Publishing for Visual Culture – begrüßen und mich einem Titel widmen, Zingster Straße 25, von Sonya Schönberger.

Gegründet wurde der Berliner Eeclectic-Verlag 2018 von Janine Sack. Der Verlag möchte die digitale Veröffentlichungsform nutzen, um schnell und weltweit Themen zu setzen, zu verbreiten und vertreiben; daneben will Eeclectic das mediale Potential von digitalen Publikationen nutzen.

Belletristisches findet sich nicht in dem neuen EBook-Verlag, EECLECTIC präsentiert in seinem deutsch- und englischsprachigen Programm Veröffentlichungen aus Kunst, Theater, Film und Architektur.

Ich habe gelesen: Die schöne, und wie es ausschaut, sich im Aufbau befindliche dokumentarische Reihe Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt 6, Zingster Straße 25, Berliner Mietshaus mit Vollkomfort, von Sonya Schönberger.

In Interviews werden die Bewohner eines Berliner Mietshauses mit Vollkomfort zu ihrer Lebenssituation befragt, die sich überwiegend in einem Mietkomplex im Berliner Bezirk Hohenschönhausen abspielt, oder platt gesagt, aber nicht treffend benannt: Wie ist es so, in einer Platte zu leben? Das Schöne an den Anfang: Die Wohnzufriedenheit ist hoch.

„… Auf dem VIII Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) 1971 verkündete der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Staatsratsvorsitzende Erich Honecker das Vorhaben, durch die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik das materielle und kulturelle Lebensniveau der Menschen zu erhöhen. Dazu gehörte auch ein Wohnungsbauprogramm, das bis 1990 angemessenen Wohnraum für alle DDR-Bürger*innen schaffen sollte. … Rund 30.000 Wohnungen für 90.000 Menschen entstanden in den fünf Folgejahren. …“

 

Häuser und deren Bewohner sind beliebt als Austragungsort von vielerlei Leben. Immer wieder finden sich in Büchern durch alle Zeiten Häuser. Ob mit Dienstboten und Herrschaft, ob als Hotel, Absteige oder Hochhaus, die Möglichkeiten sind vielfältig. In einem Haus besteht die Möglichkeit, alles in Kontrast gegeneinanderzustellen, von Etage zu Etage kann alles wechseln, variieren, sich bedingen.

In dem Hochhaus Zingster Straße 25, auch einem Austragungsort vielerlei Leben, wird die Wirklichkeit dokumentarisch bewältigt. Die Zeitstruktur gibt den Plot vor, der Kubus der Zingster Straße 25 wurde 1987 fertiggestellt, lief architektonisch unter der Nummer WHH GT 84/85. 20 Stockwerke, 144 Wohnungen, 20 Meter hoch in den Hohenschönhausener Himmel gebaut. Was dann auf die Bewohner zukam, war der Mauerfall. Zwei Jahre. Und so zerfällt das Leben aller Bewohner in ein Vorher und ein Danach.  Und das ist die Dramaturgie.

Schön sind die Einzelinterviews, weil die Bewohner ungeteilt das Wort haben; und sie erzählen vom Einzug in die Zingster Straße, welche Hürden zu nehmen waren, bevor die Wohnung zugeteilt wurde, oder auch davon, dass die Tapete des Erstbezugs nicht gefiel. Von Scheidungen, plötzlichen Toden – und die beruhigende Konstante – die Wohnung.

Da gibt es zum Beispiel die Lehrerin, die Schulrätin wurde, der plötzliche Umsturz, dann Absturz und Neuorientierung mit 48 Jahren, nach der Wende. Entlassen. Dann Umschulung zur Altenpflege.

„… Und es war die gängige Frage, weit bis in die 90er Jahre rein, an Bekannte, Familien, auch im Haus: „Hast Du Arbeit? Also gar nicht: „Wie geht’s Dir?“ Sondern die erste Frage war: „Hast Du Arbeit?“….“

Solche Sätze machen die Zeitzeugen-Interviewsammlung Zingster Straße zu einem Schatzkästchen. Sie bewirken, dass der Lesende, ein Alter vorausgesetzt, in seiner/ihrer Erinnerung kramen kann. Wie war es damals, in den Wendejahren? Und nebenher ist es immer lohnenswert, darüber nachzudenken, was mit einem Schlag geänderte rituelle Kulturformen wie Guten Tag, Auf Wiedersehen und Händeschütteln bewirken. In dem lauten Nachdenken und Reflektieren der Bewohner Zingster Straße können die unterirdischen Detonationen wahrgenommen werden, die eine Komplettänderung des Lebens, der Lebensart und –stils nach sich ziehen und darin liegt die große Kraft dieser Anwohner-Interviews.

Die Fluktuation im Haus scheint nicht hoch, langjährige Mietverhältnisse, außer bei den Ein-Raum-Wohnungen dominieren. Im Vorwort kann über den Anlass der Dokumentaristin nachgelesen werden, sich Hohenschönhausen, der Zingster Straße zu nähern.

Diese Art von erinnertem Erzählen in Zingster Straße 25, Mietshaus mit Vollkomfort, bietet schöne Schlaglichter in eine, nahe und ferne Welt. Die Interviews sind ausführlich, es scheint alles erzählt zu werden, was für die Befragten von Belang ist, die Befragerin erscheint glücklicherweise als sehr zurück gezogen, nicht wie eine begeisterte Ethnologin on tour. Ich hätte mir an dieser Stelle noch einen Hinweis oder eine Art Entstehungsgeschichte gewünscht, ob oder wie das Material bearbeitet, gestrafft oder geordnet wurde. Aber das war es auch schon an Einwänden, sehr lesenswert.

Zingster Straße 25

Sonya Schönberger

Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #6. Gespräche mit alten und neuen Bewohner*innen Neu-Hohenschönhausens

192 Seiten (im pdf), mit Fotografien von Ulrich Dießner

Mai 2018

ISBN 978-3-947295-07-4 (epub)
ISBN 978-3-947295-13-5 (pdf)

berlinerhefte.de

Weitere lesenswerte Eriginals hier bei: EECLECTIC  – Digital Publishing for Visual Culture.

… und ein glückliches und friedliches 2019 wünsche ich allen!

 

 

 

 

52 Wochen – 52 Bücher! MEHR LESEN – AUS DEN PROGRAMMEN DER UNABHÄNGIGEN VERLAGE – Krimis von Culturbooks

 

—Damit der Spaß an den schönen Büchern der Indie-Verlage auch übers Jahr anhält, rufen wir dieses Jahr die #Indiebookchallenge aus:
52 Wochen – 52 Bücher – pro Woche ein Buch. Eine Reading Challenge – vom Indiebookday 2018 bis zum Indiebookday 2019. Wichtig ist nur: Jeder der gewählten Titel sollte aus einem unabhängigen Verlag stammen.

Das Großartige an Büchern und E-Books aus unabhängigen Verlagen: Dank vieler kleiner spezieller Programme ist die Literaturauswahl sehr vielfältig. Die Indiebook Reading Challenge möchte beim Entdecken helfen, Spaß machen und den Austausch unter Gleichgesinnten ermöglichen. —

In dieser Krimiwoche zwei sehr empfehlenswerte Krimis aus dem Verlag Culturbooks: 

Gudrun Lerchbaum: Wo Rauch ist. Kriminalroman. Culturbooks 2018, Originalverlag: Ariadne

In Gudrun Lerchbaums Kriminalroman sind es die Figuren, die anziehen, die den Sog dieses Romans ausmachen. Sehr bewusst, sehr sensibel werden die Figuren gezeichnet, sehr genau  die Gefühle ihres ungleichen, auf mehreren Ebenen gehandicapten  Ermittlertrios geschildert.

Die Spielhandlung beginnt auf einer Beerdigung, denn: Can Toprak, investigativer Journalist, der eine brisant politische Enthüllungsgeschichte recherchierte, liegt im Grab. Auf dem Sarg liegen Blumen, Rose, Gerbera, da eskalieren ein Stockwerk höher die interfamiliären Verhältnisse zwischen Cans teils tiefreligiöser Familie und seiner Exfrau Olga Schattenberg.

Olga Schattenberg, Cans Exfrau, glaubt der unauffälligen Todesursache nicht. Ihr Leben als Aktivistin, als Hausbesetzerin hat sie misstrauisch gemacht, sie glaubt der Todesursache nicht, denn Can eckte häufig an …

Zwar sind sie und Can und längst nicht mehr das toxische Ehepaar, das gemeinsam das Establishment anging und genauso hart im Privaten mit Cans Untreue kämpfte oder: mit unterschiedlichen Vorstellungen zu Ehe und Zweisamkeit.

Die Kämpfe mündeten in Scheidung. Vergangenheit. Geschieden, aber beste Freunde, die Exfrau Olga sitzt im Rollstuhl, hat MS und kämpft gegen ihren versagenden Körper, kämpft um Selbstbestimmung und versucht, nicht zynisch zu werden, nicht zu verzweifeln, z.B. an gleichgültigen Sozialassistenten. Auf der Suche nach Cans Mördern bekommt Olga Unterstützung, als da wären: Adrian, Grabredner mit Helfersyndrom. Daneben, mit einer extrem starken, berührenden Stimme, Olgas neue Sozialassistentin Kiki, deren oberflächliches Label psychisch instabile Mörderin, zwölf Jahre Knast, lauten würde.

Im Außen ist die gesellschaftliche Stimmung in Wien aggressiv, der politische Rechtsdrall zeigt Wirkung auf die Menschen. Plötzlich tauchen Staatsdiener auf, die wissen möchten, was aus Can Topraks letzten Recherchen geworden ist …

Die Autorin lässt uns teilhaben an den ganz eigenen, sich stark voneinander absetzenden Stimmen dieses ungewöhnlichen Trios, Olga, Kiki und Adrian. Die Art, wie sie denken, fühlen und – ja auch ermitteln machen aus einem Kriminalroman, der ein langweiliger Politthriller hätte werden können, ein vielschichtiges Drama und hochdynamischen Kriminalroman.

Ecken und Kanten, Widerstand auf allen Ebenen, Abhängigkeitsverhältnisse – Olga Schattenberg, kämpft mit ihrem Rollstuhl gegen Bordsteinkanten, den Rechtsdrall in der Gesellschaft, gegen dubiose Machenschaften zwischen Politik und rechtsgerichteten Aktivitäten. Kiki und Adrian unterstützen sie. Mit Wo Rauch ist, ist Gudrun Lerchbaum ein spannendes Vexierspiel um das Leben, den Tod und die Zeit dazwischen gelungen.

Gudrun Lerchbaum: Wo Rauch ist. Kriminalroman. CulturBooks Longplayer. Digitale Lizenz. Circa 288 Seiten. 8,99 Euro. ISBN 978-3-95988-120-3

Berlin Noir. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Mit Originalgeschichten von Rob Alef, Max Annas, Zoë Beck, Katja Bohnet, ua.

Die Kurzgeschichte wird oft totgeschrieben, nach Lektüre der dreizehn Kriminalkurzgeschichten in Berlin Noir bleibt als Erstes festzustellen; der Leiche geht es gut. Berlin Noir ist ein gediegener Gang durch Kneipen, Kaschemmen und Fuselbuden, darüber hinaus hinaus das Bekanntwerden mit lange nachhallenden Figuren.

„… Berlin macht es dem Noir nicht leicht. Oder ganz leicht. Die Tradition ist beeindruckend, wirkmächtig und auch beängstigend ….“ (Vorwort, Thomas Wörtche)

Die Stadt als Faszinationspunkt für Schriftsteller. Berlin bietet alles, was das Schriftstellerherz begehrt, und zwar konzentriert. Eine Stadt voller Möglichkeiten, eine Stadt, die alle aufnimmt – für jeden ein Plätzchen hat. In Berlin Noir sind Einzelschicksale vor großer Kulisse ausgeleuchtet.

Interessanterweise haben sich die dreizehn Autoren von der Ahndung von Straftaten erstaunlich freigemacht. Fehlt ein Ermittler, wird keine Sühne mehr gefordert, dann sind wir in den Zustandsbeschreibungen einer Gesellschaft.

Berlin Noir ist nicht nur ein Spaziergang mit Getriebenen, Verirrten & Verwirrten durch die Berliner Bezirke, nein: die Kurzgeschichten werfen Schlaglichter, bilden das Hier und Jetzt ab. Es ist kurzweilig und vor leberschonend, eine Kneipentour zu machen, ohne

„…die nächsten Tage verkatert und noch deprimierter als sonst von seinem unerschöpflichen Arsenal an Frustgedanken zerschossen zu werden …“

wie Miron Zownir in seiner Kurzgeschichte Überstunden eine Figur in einer Trostlosigkeit von Etablissement auf der Kurfürstenstraße grübeln lässt. In Überstunden sind alle Figuren gründlich gescheitert. Zownir entwirft knapp und präzis Leben, von denen eines aber so unvermutet entgrenzt aufscheint, dass wir schaudern.

Trotz des Kriminalsujets sind die Stories figurenorientiert erzählt. Bemerkenswerte Charaktere auf knappstem Raum, wie der nicht auffindbare Nick in SO36 von Johannes Groschupf. Die Schilderung eines Abwesenden ist mehr als eine Tartuffsche Einführung, die Suche nach ihm durch alle Kneipen um den Heinrichplatz, die Oranienstraße runter ist so gut gelungen, dass der Leser am Ende in den Klagegesang der Frauen beim allsonntäglichen Bingospielen einstimmen möchte. Oft macht nicht die Story oder das handelnde Umfeld die Figuren interessant – sondern das Abseitige in ihnen. Berlin Noir ist eine Reise durch die Stadt, besser als im Sightseeing-Bus. Die Kriminalgeschichten zeichnen sich besonders durch ihre besondere Lebendigkeit der Figuren aus, auch weil sie sich in einem klar erkennbaren Heute befinden, auf ihre Umwelt reagieren – auf welche Art und Weise auch immer. Von dreizehn Autoren entstehen Momentaufnahmen, Schreiben mit Kamerablick, wie Christopher Isherwood es von sich forderte. weil näher dran. Berlin Noir ist ein langer Budiken-Besuch und ein Kulturführer der besonderen Art.

Paperback. CulturBooks, 1.März 2018. 336 Seiten. 15,00 Euro (D), 15,50 Euro (A). ISBN 978-3-95988-101-2. eBook: 9,99 Euro

 

 

 

Magdalena Jagelke: Ein gutes Verbrechen

… Ich war ganz allein mit mir…“ S.52

Darum geht es. Ein gutes Verbrechen, 2018 erschienen bei Voland und Quist, hat das Verlassen- und Verlorensein zum Thema. Einsamkeit, ungefiltert in und um das Mädchen Tara herum, in der sie immer wieder zu ertrinken droht.

Magdalena Jagelke hat keine vergnügliche Schelmengeschichte geschrieben. Tara versucht ein Leben nach der Großkatastrophe – eigentlich ein Verbrechen. Ein gutes Verbrechen? Aus der Perspektive von Tara, versucht der Leser anhand von hingestreuten Brotkrümeln zu ergründen, ob es nicht irgendjemanden geben könnte, der sich um eine Halbwüchsige kümmert. Nur wenig Biografisches wird geboten: Aus der Perspektive des Mädchens erfahren wir, dass der Vater bei der Armee ist, die Fürsorge der Mutter sich in regelmäßigen monatlichen Zahlungen erschöpft, Freunde, andere Verwandte: Fehlanzeige. Der Titel wirft Fragen auf. Ein gutes Verbrechen. Kann es ein gutes Verbrechen sein, sein halbwüchsiges Kind zu verlassen? Das ist pauschal so wenig zu beantworten, wie die Frage, ob Käse schmeckt. Aber der Titel steuert Spannung bei, denn die Antwort, ob es eine gute Tat sein kann, sein Kind zu verlassen, wird in der Erzählung gesucht.

Am Ende ist Tara dreiundzwanzig, warum die Mutter gegangen ist, bleibt unklar. Am Ende aber ist klar, dass die Erzählung nicht auf Wertung aus ist, es geht darum, wie ein Mensch ein Trauma verkraftet – oder eben nicht. Bei Tara vollzieht sich die soziale Anpassungsleistung nur an der Oberfläche. Sie verwandelt sich nicht in eine sozial Randständige, sie eskaliert nicht. Stattdessen ist ein Mensch zu sehen, der sich panzert, Seele und Gefühle hinter einer Milchglastür versteckt. In leisen Tönen, klaren schnörkellosen Sätzen wird der Leser dazu eingeladen, wie und ob nach einem Trauma, Studium, Beruf und Liebe zu gestalten sind – auch durchgespielt anhand einer Liebesaffäre zu einem Filmvorführer, die wie ein kaputter Kreisel eine eigenartige Dynamik entfaltet.

Ein gutes Verbrechen ist wunderbar konzentriert und dicht geschrieben, wie alles von Magdalena Jagelke, ohne Ausschweifungen. Dadurch erhält die Erzählung etwas Durchscheinendes, einen ganz eigenen lyrischen Klang. Dagegen sind Betrachtungen gerade an Kapitelenden mit äußerster Vorsicht zu genießen. Wenn zu oft eingesetzt, wirken sie wie das Raunen einer blinden Seherin auf einer Klippe in Cornwall in einem MTV-Video aus den Achtzigern, gewollt, künstlich.

Der Erstling von M. Jagelke, Sich in Polen einen Bob schneiden lassen, ist ein Eriginal voll unglaublich schöner Kurzgeschichten, plus der ihm eigenen Ton. Sich in Polen einen Bob schneiden lassen, herausgegeben von Culturbooks, war handlungszentrierter, wie das geniale Wiedertreffen zweier Freundinnen nach Jahren, von denen die eine tiefgläubig wurde und mit einer Unverblümtheit fundamentalste Glaubensauffassungen zum Besten gibt, dass es nur so knallt. Lebensvoll wurde diese Sammlung Kurzgeschichten durch den eigenen Ton – und weil so nah an der Wirklichkeit geschrieben wurde.

Diese Seinswirklichkeit umgeht Jagelke geschickt in Ein gutes Verbrechen, indem sie sich ausgiebig der Innenschau ihrer Hauptfigur widmet. Tara hat Anflüge von Ähnlichkeiten mit Catherine Deneuve in Ekel, wobei die Filmfigur in ihrem Auf Wiedersehen zur Wirklichkeit sehr viel weitergeht. Hier wird ein in seiner Entwicklung stehen gebliebenes Kind gezeigt. Das Bedrückende ist, dass Tara so gar nicht in die Jetztzeit passt, z.B in unseren Neoliberalismus. In Zeiten, in denen ein Mensch besonders gut bei sich sein muss, in Zeiten, in denen sich die Grenzen von Beruf und Privatem auflösen, das Eine in das andere fließt, wirkt dieses zarte Mädchen, das darum kämpft, nach der Mutter sich selbst nicht auch noch zu verlieren, besonders schutzbedürftig. Das nimmt sehr für sie ein. Allerdings muss die Gegenwart selbst imaginiert werden, und das ist der Nachteil.

Das Ende hat mich stutzen lassen, es ist rasch herbeigeschrieben, aber nicht inplausibel. Schaut man genauer hin, auch nicht überraschend, aber radikal. Eben Magdalena Jagelke. Lesenswert!

 

 

Über die Autorin
Magdalena Jagelke, 1974 in Polen geboren, lebt seit 1986 in Deutschland. Sie hat Anglistik und Bibliotheks-/Informationswissenschaft studiert. Merck-Stipendiatin 2013. Bei CulturBooks erschienen: Sich in Polen einen Bob schneiden lassen. Storys. Digitales Original. CulturBooks Album, Januar 2015. 55 Seiten. 3,99 Euro. Zum Buch. Bei Voland & Quist erschienen: Ein gutes Verbrechen, 2018, 120 Seiten, 16,00 Euro.

 

 

Termine mit Magdalena Jagelke

  • 21.09.2018  20:00, Traumathek, Köln

  • 11.10.2018  17:00, OPEN BOOKS im Frankfurter Kunstverein, Frankfurt am Main

Berlin Noir


13 Kurzgeschichten, 13 Blickwinkel, 13 Stadtviertel – und 13 faszinierende Teile eines größeren Puzzles. Berlin Noir, erschienen bei culturbooks

Von der Faszination der Großstädte. Der Herausgeber Thomas Wörtche schreibt in seinem Vorwort über die Faszination der Großstädte:

„… Berlin macht es dem Noir nicht leicht. Oder ganz leicht. Die Tradition ist beeindruckend, wirkmächtig und auch beängstigend ….“

Ob Franz Hessel als Flaneur durch Berlin, Christopher Isherwood als Beobachter und Teilnehmer städtischer Subkulturen, Gottfried Benn und seine Gedichte aus der Morgue über Menschen, deren Leben in Berlin beendet ist, die sich als Leichen auf dem Seziertisch wiederfinden, mit Schlingpflanzen im Haar und Ratten, die in ihnen nisten.  Und Joseph Roth beobachtet und beschreibt genau, voller Liebe im Scheunenviertel Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben, einer Bleibe, einem Platz: Juden auf Wanderschaft.

Die Stadt ist ein Faszinationspunkt für Schriftsteller. Berlin bietet alles, was das Schriftstellerherz begehrt, und zwar konzentriert. Eine Stadt voller Möglichkeiten, eine Stadt, die alle aufnimmt – für jeden ein Plätzchen hat, und wenn es nur eine Parkbank ist. Gleichzeitig behandelt Stadt den Einzelnen achtloser, gibt es ein Nebeneinander zwischen Reich und Arm, trifft arm auf besitzend, krank auf gesund. Miteinander, Gegeneinander. In Berlin Noir wird der Einzelne herausgehoben. Einzelschicksale vor großer Kulisse.

Die Vorliebe des Krimis für das dunkle und Abseitige ist der Kriminalgeschichte zu eigen, und es ist Grundmotivation für den Kauf und das Lesen solch einer – und Berlin Noir gibt dem Affen Zucker. Meine größte Sorge war, in Berlin Noir auf Geschmacklosigkeiten zu treffen, die mir seit Jahren das Krimilesen verleiden: Null motivierte Verhaltensweisen bei Serienschlächtern, es wird ausgeweidet, was das Zeug hält, aber weit und breit kein Motiv oder Grund für die Taten. Genauso schlimm oder noch schlimmer: Die gute alte Zeit, Kriminalromane, die gern in den Dreißiger Jahren spielen, voll mit Flüsterkneipen, Koks und einer Sprache, die sich blechern anhört. Gute Nachricht. Keine der Kurzgeschichten in dem vorliegenden Band ist so aufgezogen.

Die Kriminalgeschichten in Berlin Noir sind nach Bezirken geordnet. Es muss nicht ein Mord im Mittelpunkt stehen, schon gar nicht deren Aufklärung. Interessanterweise haben sich die dreizehn Autoren von der Ahndung von Straftaten erstaunlich freigemacht. Fehlt ein Ermittler, Ermittelnder, wird keine Sühne mehr gefordert, dann sind wir in den Zustandsbeschreibungen einer Gesellschaft.

Berlin Noir ist aber nicht nur ein Spaziergang mit Getriebenen, Verirrten & Verwirrten durch die Berliner Bezirke, sondern oft ein Schlaglicht, der Versuch eines Abbildes im Hier und Jetzt. Der Beginn von RAMMELBULLEN, Kai Hensel, ist eine Fotografie, die das Benehmen der Berliner Polizisten auf dem letztjährigen Hamburger G20 Gipfel zum Anlass abbildet:

„…einer der größten Polizeiskandale der vergangenen Jahre. Drei Berliner Einsatzhundertschaften sind von der Hamburger Polizei aus der Hansestadt verwiesen worden. Grund: Ungebührliches Verhalten! …“

Gezeigt werden die persönlichen Auswirkungen auf die schmähliche Heimsendung an von zwei Familien. Hier wird Entgleisung geschildert, mit einem knalligen Schluss. RAMMELBULLEN ist mehr eine Kurz-, denn Kriminalgeschichte; die Heimsendung lässt eheliche Konflikte in zwei Polizistenfamilien aufbrechen, Hensel zeigt ein Dilemma auf: zu viel zu tun, zu wenig Geld, Erschöpfung. Das am Ende ein Gesuchter dingfest gemacht wird, hat nichts mit Polizeiarbeit, nichts mit ermittlungstaktischer Arbeit zu tun, eher etwas mit dem Autorenwillen zum Happy-End. Der Leser atmet auf: Denn so sympathisch wurde die Polizei selten beschrieben.

Die Kurzgeschichte wird oft totgeschrieben, nach Lektüre von Berlin Noir bleibt festzustellen; der Leiche geht es gut. Berlin Noir ist auch ein gediegener Gang durch Kneipen, Kaschemmen und Fuselbuden.

Es ist kurzweilig und vor leberschonend, eine Kneipentour zu machen, ohne

„…die nächsten Tage verkatert und noch deprimierter als sonst von seinem unerschöpflichen Arsenal an Frustgedanken zerschossen zu werden ….“

wie Miron Zownir in seiner Kurzgeschichte ÜBERSTUNDEN eine Figur in einem trostlosen Etablissement auf der Kurfürstenstraße grübeln lässt. In ÜBERSTUNDEN sind alle Figuren gründlich gescheitert. Zownir entwirft knapp und präzis Leben, von denen das eine aber so unvermutet entgrenzt aufscheint, dass wir schaudern.

Trotz des Kriminalsujets sind die Stories durchgängig figurenorientiert erzählt. Bemerkenswerte Charaktere tun sich auf, wie der nicht auffindbare Nick in SO36 von Johannes Groschupf. Die Schilderung eines Abwesenden ist mehr als eine Tartuffsche Einführung, die Suche nach ihm durch alle Kneipen um den Heinrichplatz, die Oranienstraße runter ist so gut gelungen, dass der Leser am Ende in den Klagegesang der Frauen beim allsonntäglichen Bingospielen einstimmen möchte. Oft macht nicht die Story oder das handelnde Umfeld die Figuren interessant – sondern das Abseitige in ihnen.

 

Fazit: Berlin Noir ist eine Reise durch die Stadt, besser als im Sightseeing-Bus. Berlin Noir zeichnet sich besonders durch eine besondere Lebendigkeit der Figuren aus, auch weil sie sich in einem klar erkennbaren Heute befinden, auf ihre Umwelt reagieren – auf welche Art und Weise auch immer. Von dreizehn Autoren entstehen Momentaufnahmen, Schreiben mit Kamerablick, wie Christopher Isherwood es von sich forderte. weil näher dran. Berlin Noir ist ein langer Budiken-Besuch und ein Kulturführer der besonderen Art.

 

Über das Buch: Berlin Noir. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Mit Originalgeschichten von Rob Alef, Max Annas, Zoë Beck, Katja Bohnet, Ute Cohen, Johannes Groschupf, Kai Hensel, Robert Rescue, Susanne Saygin, Matthias Wittekindt, Ulrich Woelk, Michael Wuliger, Miron Zownir. Paperback. CulturBooks, 1.März 2018. 336 Seiten. 15,00 Euro (D), 15,50 Euro (A). ISBN 978-3-95988-101-2. eBook: 9,99 Euro